90 Jahre Gemeinnützige Baugenossenschaft Wittlich e. G.

Dr. Klaus Petry anlässlich der Mitgliederversammlung am 17.06.11
 

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde und Mitglieder der Gemeinnützigen Baugenossenschaft!

Dem Festredner zu einem bestimmten Jubiläum, in diesem Falle 90 Jahre Gemeinnützige Baugenossenschaft Wittlich, wird eigentlich selten der passende Anlass geboten, mit ungeschminkter Wahrheit seine Ausführungen beginnen zu können und zu dürfen - heute ist mir diese Gelegenheit gegeben worden und daher möchte ich mit einem Satz anfangen, der durchaus als Richtschnur für ihr weiteres öffentliches Verhalten gelten darf und soll:

Sie können und dürfen stolz sein, Mitglieder einer Gesellschaft zu sein, die in Zeiten größter Not in tatkräftiger Selbsthilfe dem kommunalen Gemeinwesen Wittlich eine wirkungsvolle und nachhaltige Hilfe zukommen ließ, die noch heute das Handeln der Gesellschaft, also auch ihr Handeln, bestimmt und noch hoffentlich lange bestimmen wird!

Was berechtigt mich zu dieser schon fast Unikaten Wertung? Dazu müssen wir, dem chronologischen Ansatz des Jubiläums entsprechend 90 Jahre - und noch etwas mehr - in der Geschichte Wittlichs zurückgehen. Am 14. August 1918 hatte die Oberste Heeresleitung erstmals offen die Fortsetzung des Krieges für aussichtslos erklärt. Jetzt überschlugen sich die Ereignisse:

Am 3. Oktober wird Prinz Max von Baden zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ernannt; am 3. November bricht der Aufstand der Matrosen in Kiel los, ein Aufstand, der in Windeseile auch andere deutsche Städte erfasst. Einen Tag später, am 4. November, wendet sich die neue Regierung in einem Aufruf „An das deutsche Volk“. Ein entscheidender Kernsatz der Proklamation lautet:

„Zu den wichtigsten Aufgaben gehört der Wiederaufbau unserer Volkswirtschaft damit die von der Front in die Heimat zurückkehrenden Soldaten und Matrosen die Möglichkeit vorfinden, sich ihre und ihrer Familien Existenz wieder zu sichern. ... Arbeitsbeschaffung, Erwerbslosenunterstützung, Wohnungsfürsorge und andere Maßnahmen auf diesem Gebiete sind teils in Vorberatung, teils schon ausgeführt''.

Der Text des Aufrufes wurde am 7. November 1918 im Wittlicher Kreisblatt veröffentlicht, zwei Tage vor der Revolution in Berlin. Ob die Wittlicher Leser diesen Worten vertrauten, sei dahingestellt - die Wirklichkeit sah jedenfalls anders aus. Beschränken wir uns, dem Thema gemäß, auf den Begriff „Wohnungsfürsorge“.

Der Krieg hatte fast jede Bautätigkeit unmöglich gemacht. Wurden zwischen 1908 und 1914 noch 57 Häuser mit 79 Wohnungen gebaut, waren es zwischen 1915 und 1918 lediglich 3 Häuser mit 4 Wohnungen! Der geringe Zuwachs an Wohnungen stand dabei in krassem Gegensatz zur Bevölkerungsentwicklung in der Stadt. Besaß Wittlich nach der Volkszählung von 1917 5513 Einwohner, waren es 1921 schon rund 6750 Einwohner, also rund 1200 Einwohner mehr, die ja auch untergebracht sein wollten. Der Zuwachs resultierte aus den Flüchtlingen und Ausgewiesenen aus den an Frankreich gefallenen Gebieten Elsass-Lothringens einerseits, aber andererseits auch aus Zugezogenen mit ursprünglich familiären Wurzeln in Wittlich, die sich in der Kleinstadt bessere Unterhaltsmöglichkeiten erhofften als an ihren jetzigen Wohnorten.

Hinzu kamen die Wohnungsforderungen der französischen Besatzungstruppe und der Kreisdelegation. 1921 hatte sie 15 Wohnhäuser mit 23 Wohnungen beschlagnahmt, sicherlich nicht die engsten, muffigsten und unmodernsten! Die Aufstockung der Beamtenschaft in der Strafanstalt, ein Finanzamt und ein Zollamt mit zahlreichen Beamten verschärften die allgemeine Wohnungsnot, da die Verwaltung keine Wohnungen bereit stellen konnte.

Im Gründungsjahr der Gesellschaft 1921 gab es allein 84 Wohnungsgesuche, die auf absehbare Zeit unerfüllbar erschienen, und 16 Beamte mit Amtssitz in Wittlich mussten in den benachbarten Dörfern Wittlichs wohnen! 34 Familien waren in teils menschenunwürdigen Unterkünften untergebracht.
Schon Ende September 1919 sah sich der damalige Bürgermeister Darius veranlasst, eine „Warnung vor Zuzug nach Wittlich“ auszusprechen. Er schrieb: „Die Wohnungsnot in Wittlich ist so groß geworden, dass dringend davor gewarnt werden muss, nach Wittlich überzusiedeln. Zuziehenden droht Obdachlosigkeit. Vom Wohnungsamt kann ihnen nicht geholfen werden.

Es ist überdies verboten, in Wittlich eine Wohnung ohne Genehmigung des Mieteinigungsamtes in Benutzung zu nehmen“. Dieses Mieteinigungsamt war, „da in hiesiger Stadt eine große Wohnungsnot besteht“, wie die Begründung lautete, in der Sitzung der Stadtverordneten am 21. Juli 1919 errichtet worden. Die „Warnung vor Zuzug nach Wittlich“ musste im März 1920 wiederholt werden. Jetzt hieß es sogar: „Dringende Warnung vor Zuzug nach Wittlich“! Auch die Strafandrohung hatte sich verschärft: ,,Nichtbeachtung dieser Vorschriften hat die Ungültigkeit des Mietvertrages zur Folge, die Mieter haben zwangsweise Aussetzung zu gewärtigen.“ Nicht nur mit diesen Aufrufen, deren Wirksamkeit ohnehin kaum überprüfbar waren, sondern vor allem mit administrativen Eingriffen, versuchte die Stadtverwaltung gegen den Wohnungsmangel vorzugehen.

Am 9. Januar 1921 veröffentlichte sie eine „Verordnung der Maßnahmen gegen Wohnungsmangel“. Mit Zustimmung des Reichsarbeitsministers und Regierungspräsidenten zu Trier wurde beispielsweise,

  • Verboten, Gebäude oder Gebäudeteile ohne vorherige Zustimmung abzubrechen,
  • Räume, die bis zum 1. Oktober 1918 zu Wohnzwecken bestimmt oder benutzt waren, zu anderen Zwecken, insbesondere zu Geschäftszwecken zu verwenden,
  • Es war Anzeige zu erstatten, sobald eine Wohnung' ein Lager, eine Werkstatt, Dienst-oder Fabrikräume unbenutzt bzw. gekündigt wurden;
  • Auf Verlangen musste jederzeit über die Zahl, Lage und Größe der Räume einer Wohnung sowie über die Anzahl der Personen des Haushaltes Meldung gemacht werden, etc. etc. etc.
     

Nichts kennzeichnet die allgemeine Wohnungsnot in Wittlich mehr als der Ende Januar 1921 erfolgte Beschluss der Stadtverordnetenversammlung, eine „Wohnungsluxussteuerordnung“ einzuführen. Nach ihr galt als überflüssig:

  • mehr als zwei Wohnräume bei alleinstehenden Personen mit eigenem Haushalt,
  • mehr als drei Wohnräume bei kinderlos Verheirateten
     

Wir können davon ausgehen, dass diese Vorschriften recht rigoros umgesetzt wurden, da wenigstens ein Hausbesitzer im Wittlicher Tageblatt vom Februar 1922 unverblümt seine Meinung kund gab:
„Die Wohnungskommission und das Mietamt der Stadt Wittlich hat mein Haus Ecke Schloß-und Kahrstraße in eine Lage gestellt, dass es für mich ferner unhaltbar ist. Lasse es an einem später zu bestimmenden Termin versteigern. Gezeichnet: P(eter). Teusch-Hansen“

Die Inflation und nachfolgende Geldnot ließen den Glaswarenhändler Peter Teusch-Hansen wohl bald erkennen lassen, dass eine Versteigerung nur mit einem empfindlichen Verlust erkauft werden konnte. Das Haus ist jedenfalls heute noch in Familienbesitz. Die recht ausführliche Darstellung der Wohnungsnot in der unmittelbaren Nachkriegszeit sollte das Bewusstsein schärfen einerseits für die außergewöhnliche Leistung, die ihre Vorgänger mit der Gründung der Baugenossenschaft vollbrachten aber andererseits auch für das soziale Verantwortungsgefühl, das sie ihren notleidenden Mitbürgern entgegenbrachten und das sie, wenigstens auf dem Sektor des Wohnungsbaus, zu lindern suchten.

Die Gründungsversammlung fand am 5. November 1921 im Kolpinghaus, dem damaligen Gesellenhaus, statt. Der Vorsitzende der Genossenschaft, Rektor Olk, konnte 85 Interessenten begrüßen, eine Zahl, welche auch für die Größe der Wohnungsnot in Wittlich steht. Bürgermeister Neuenhofer stellte der Genossenschaft das weitgehendste Entgegenkommen der Stadtverwaltung in Aussicht und, „gab der Hoffnung Ausdruck, dass nach Verlauf eines Jahres eine stattliche Häuserreihe von der zur Behebung der außerordentlich großen Wohnungsnot wirkenden Genossenschaft Zeugnis geben möge“.

Wenn auch in Anbetracht der Zeitumstände die Realisierung seines letzten Wunsches mehr Zeit benötigte, so war doch seine erste Zusage kein leeres Versprechen. so hieß es in der Sitzung der vereinigten Finanzkommission und des Ältestenausschusses am 10. November: „Die Kommissionen nehmen Kenntnis von der Errichtung der gemeinnützigen Baugenossenschaft Wittlich. Sie sprechen sich grundsätzlich für weitestgehende Unterstützung des neuen Unternehmens aus. Sie empfehlen insbesondere:

a. 20 Anteile auf die Stadt zu übernehmen;
b. das nötige Baugelände zu einem mäßigen Preis zur Verfügung zu stellen;
c. das Baudarlehen gegen erststellige Hypothek die Bürgschaft zu übernehmen.

Weitere Schritte folgten unmittelbar. In der Sitzung der Stadtverordneten am 23.November beschloss man, „in Anbetracht der großen Wohnungsnot und zur Förderung der Tätigkeit der Gemeinnützigen Baugenossenschaft“ am Sehlemetweg und am Steinbruchweg, der heutigen Römerstraße, Baugelände zu erschließen. Gebaut wurde jedoch an anderer Stelle in der Stadt, vornehmlich an der Wilhelmstraße, heute Trierer Landstraße, und am Bergweilerweg. Bis 1927 entstanden 20 Mietwohnungen in der Wilhelmstraße und 13 Wohnungen im Bergweilerweg.

Da die Nazis keine Konkurrenten im „sozialen Wohnungsbau“ zuließen, den sie in Wittlich durch den Ausbau von Stadtrandsiedlungen selbst übernahmen, konnte sich eine wirksame Tätigkeit der Baugenossenschaft erst nach dem Krieg wieder entwickeln.

Für die Nachkriegsentwicklung möchte ich sie mit Statistiken, so eindrucksvoll diese Leistungsnachweise der Genossenschaft auch sind, nicht langweilen. Sie sind konzise zusammengefasst im Kurzüberblick zur Geschichte der Genossenschaft, den mir Leo Simon zukommen ließ und der im Internet nachzulesen ist.

Lediglich zwei erst im TV von 2005 publizierte Zahlen nötiger zur Anerkennung. So heißt es in der Überschrift des Artikels:

 „Die Baugenossenschaft Wittlich bietet 387 Wohnungen zu relativ günstigen Konditionen an“, und im Artikel selbst wird die Zahl von 588 Mitgliedern genannt!

Natürlich haben wir nicht mehr jene menschenunwürdige Wohnungsnot nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, die ihre Vorgänger zur Gründung der Baugenossenschaft veranlasste, aber offenbar immer noch das Bedürfnis, einkommensschwachen Familien kostengünstige Wohnungen zu verschaffen. Da etwa zwei Drittel ihrer Wohnungen heute Sozialwohnungen sind befindet sich die Genossenschaft immer noch im Einklang mit den 1971 vom Verbandsdirektor der rheinischen Wohnungsunternehmen Walter Bellemann formulierten Ziele nämlich ,,… im Wege gemeinschaftlicher Selbsthilfe Wohnraum für die wirtschaftlich schwächeren Kreise der Bevölkerung zu schaffen".

Folgen sie diesem Ziel auch in Zukunft!

Dr. Klaus Petry

Festvortrag Dr. Petry
Prinz Max von Baden mit Außenminister
Prinz Max von Baden mit Außenminister
Blick über Wittlich
Blick über Wittlich
Kolpinghaus
Kolpinghaus
Wittlicher Tageblatt
Wittlicher Tageblatt
Blick auf den Bergweilerweg
Blick auf den Bergweilerweg
Blick auf die Sternbergstraße
Blick auf die Sternbergstraße